In Kebnekaise erwartet mich statt Erholung ein Kulturschock. Die letzte Etappe nach Nikkaluokta wird für mich nicht nur zum krönenden Abschluss des Kungsleden-Trails, sondern lehrt mich auch Lektionen, die ich fortan mit mir tragen werde.
Verantwortungsdiffusion
Die Menschen in der Gemeinschaftsunterkunft verhalten sich ausgesprochen rücksichtslos: Im Schlafsaal wird mit Türen geknallt, gestampft und sich laut unterhalten. Die alten Holzbetten knarzen bei jeder kleinen Bewegung. Und irgendwer bewegt sich immer. Mit so vielen Gästen im Schlafsaal ist das nervige Geräusch omnipräsent. Ebenso wie lautstarkes Schnarchen. Beides zusammen genommen, finde ich in dieser ersten und zum Glück einzigen Nacht in Kebnekaise leider keinen Schlaf.
Die Gemeinschaftsküche ist auffallend schmutzig. Auf den STF-Hütten hat die Arbeitsteilung in unserer kleinen Gruppe immer wunderbar funktioniert: Ohne Frage wurde benutztes Geschirr ordentlich sauber gemacht und verräumt, verbrauchtes Wasser wieder aufgefüllt und Schmutzwasser entsorgt. In Kebnekaise sind die ersten Teller, die ich in die Hand nehme, mit alter Nudelsoße verklebt.
Die Toiletten sind entweder schmutzig, verstopft oder defekt. Und während ich auf dem Kungsleden meinen Müll in einer kleinen braunen Papiertüte von Hütte zu Hütte mit mir getragen habe, quillen hier die Abfallbehälter regelrecht über. Je mehr Menschen, desto weniger scheint jede:r das eigene Verhalten zu reflektieren. Ganz nach dem Motto: „Ein anderer wird sich schon kümmern“. Oder: „Das richtet das Personal“.
Buffet-Kleinkrieg
Am meisten ernüchtert mich die Situation beim Frühstück am nächsten Morgen. Bereits vor Eröffnung um sechs Uhr sammelt sich eine Traube Menschen in der Lobby. Sie stehen in den Startlöchern, um das Buffet zu stürmen. Und genau das passiert just in dem Moment, in dem sich die Türen zum Frühstücksraum öffnen. Die Menschen drängen sich wie eine Horde ausgehungerter Primaten in den Raum und an das viel zu kleine Buffet.
Eine Schlange ist nicht erkennbar. Hungrige Sportler:innen türmen ihre Teller voll Brot, Wurst, Käse und Eier. Und stellen sich an Ort und Stelle direkt noch in aller Ruhe ihre Lunch-Pakete zusammen.
Ich bin genervt. So hatte ich mir mein erstes richtiges Frühstück nach der Wanderung nicht vorgestellt. Zu mir gesellt sich das französische Pärchen und unsere Laune ist im Keller. Ich möchte so nicht sein. Ich habe mir fest vorgenommen, die guten Angewohnheiten von meiner Wanderung in den Alltag zu übertragen: Sorgsam mit Wasser umgehen, kein Essen verschwenden, möglichst wenig Müll produzieren, Handyfreie Zeiten einplanen.
Speed-Wandern
Entsprechend früh ergreife ich die Flucht und mache mich auf die letzte, langgezogene Etappe. Der steinige Weg ist mehr oder weniger flach und ich bringe ihn mit erstaunlicher Geschwindigkeit hinter mich. Während ich zu Beginn beim Umdrehen noch den Gipfel des Kebnekaise hinter mir sehen kann, führt der Weg später nur noch an einem langgestreckten See entlang und durch Birkenwälder. Ich befinde mich das erste Mal seit Tagen wieder unterhalb der Baumgrenze.
Zu meiner Geschwindigkeit trägt bei, dass dieses Wegstück vor Moskitos nur so wimmelt. Sobald ich stehen bleibe, fallen sie über mich her. Antibrumm? Wirkungslos. So trinke ich im Gehen und sehe zu, dass ich aus dem Sumpfgebiet rund um den See verschwinde. Es ist an dem Punkt wirklich Kardio-Wandern.
An mir vorbei zieht irgendwann das französische Pärchen, das es sogar noch eiliger hat: Sie möchten die Fähre erwischen. Auch hier besteht die Möglichkeit, einen Teil des Weges mit dem Boot abzukürzen. Die Versuchung ist da, doch ich wiederstehe ein zweites Mal.
Die Wege sind spürbar voller und neben dem Boot als alternativem Fortbewegungsmittel gibt es hier tatsächlich auch Helikopterflüge. Der einfache Luftweg zwischen Nikkaluokta und Kebnekaise kostet schlappe 1.000 Euro. Dagegen sind die 40 Euro für die Bootsfahrt ein echter Schnäpper.
Auch wenn ich verstehen kann, dass es für manche Menschen vielleicht der einzige Weg ist, die wunderschöne Natur rund um Schwedens höchsten Berg zu erleben: Mit Blick auf die Nachhaltigkeit ist das natürlich eine Katastrophe. Früher habe ich so etwas gar nicht reflektiert. Doch ich schwöre mir an diesem Ort und dieser Stelle, niemals in meinem Leben einen touristischen Helikopter-Flug zu unternehmen.
Lap-Donalds
Ich komme ausgepowert im bekannten Enoks-Restaurant an. Erwartet habe ich mir eine Touristen-Falle, doch ich bin positiv überrascht: Das von Sami geführte Restaurant hat ein richtig schnittiges Design, die Bedienung ist wahnsinnig freundlich und das Essen gigantisch gut.
Der Klassiker sind hier Rentier-Burger. Laut meiner beiden deutschen Wander-Buddies, die wenig später eintreffen und sich zu mir gesellen, schmeckt dieser sehr gut. Disclaimer: Für uns ist nach Tagen in der Wildnis wahrscheinlich jede Speise, die nicht gefriergetrocknet ist, eine Geschmacksoffenbarung.
Auch meine Västerbotten-Pai mit Lachs und Rohkostsalat ist eine Gaumenfreude. Auf meine vorige Nachfrage, was da außer Käse denn noch drin sei, entgegnet die junge Frau an der Kasse nur verschwörerisch: „It’s just a lot of cheese“. So kann ich das definitiv bestätigen!
Überraschenderweise ist das Gericht nicht zu schwer und nach der körperlichen Anstrengung vom Vormittag herzlich willkommen. Nachdem ich die letzten Tage nur von Kohlenhydraten gelebt habe, sind der Fisch und der Käse eine Wohltat.
Im Wolkenbeeren-Himmel
Und ich habe noch einmal richtig Glück: Die Sami verkaufen im Enoks selbstgemachte Cloudberry-Marmelade mit Beeren aus der Region. Auf den ersten Blick sehe ich bereits den Qualitätsunterschied zu den Marmeladen aus dem Supermarkt, die ich vorher unter die Lupe genommen hatte. Der schlägt sich auch im Preis nieder, den ich aber gerne bezahle, um mir selbst und einem lieben Menschen zuhause eine ganz besondere Erinnerung aus Schweden mitzubringen.
Birkenwälder und Blaubeer-Pfade
Die letzten sechs Kilomenter plätschern entspannt dahin. Es geht über breite Wege und durch lichtfurchflutete Birkenwälder. Schwedische Bilderbuchlandschaft: Der Waldboden ist von einem märchenhaften Blaubeer-Teppich überzogen. Die Beeren haben hier bereits die volle Reife erlangt.
Dieselben safigen Beeren finden sich später in meinem Stück Kuchen wieder, den ich mir mit den deutschen Mädels in Nikkaluokta gönne. Kurz vorher sind wir alle drei von Glücksgefühlen geflutet durch das hölzerne Tor in Form eines Sami-Zeltes geschritten, das das Ende des Nördlichen Kungleden markiert.
Mission accomplished!
Wir haben es geschafft: 105 Kilometer waren es offiziell. Meine Tracking-App zeigt 148 Kilometer an, da sie auch die Schritte auf den Hütten und alle Umwege erfasst hat. Ich bin wahnsinnig stolz auf mich und uns und unendlich dankbar für diese wirklich lebensverändernde Erfahrung, die ich in den nächsten Tagen noch ausgiebig reflektieren werde.
Zunächst bringt mich der Nikkaluoktaexpress in einer knappen Stunde zurück nach Kiruna. Ich begegne dem zynischen Busfahrer von der Hinreise wieder, der mich zum Glück nicht erkennt und sogar nette Scherze auf Deutsch mit mir macht. Er kommuniziert allerdings nicht mit seinen Fahrgästen und die Route des Busses hat sich geändert, da der Flughafen in Kiruna vorübergehend geschlossen ist.
Ich kenne mich zum Glück schon etwas aus und kann dadurch meinem verwirrten Nebensitzer helfen, der während der Fahrt abwechselnd einschläft, fast mit dem Kopf auf meiner Schulter landet, dadurch aufwacht, ein Stück Marabou-Schokolade futtert und dann wieder einnickt. Sympathisch.
Ihr könnt euch vorstellen, wie dankbar ich meiner Unterkunft in Ghosttown für das erneute Gratis-Upgrade auf ein Doppelzimmer zur Einzelnutzung bin. Eine Dusche, eine Waschmaschine und eine ordentliche Mütze Schlaf, sind alles, was ich gerade brauche.
Zurück in Kiruna
Das Hotel-Frühstück erweckt mich am nächsten Morgen wieder zum Leben. Ganz ohne Gedrängel, dafür mit Manieren, ruhiger schwedischer Musik und ein paar übernächtigten aber sehr gemütlichen LKW-Fahrern, die hier zwischengelandet sind.
Ich merke deutlich, dass es ein paar Tage dauern wird, bis mein Körper wieder ganz bei Kräften ist. Die Glieder sind schwer, ich schlafe schlecht und wenig, meine Haut ist unrein und ich fühle mich irgendwie ausgetrocknet.
Glücksmomente
Auf dem Weg zum mir angestammten Espresso House winkt mir doch tatsächlich derselbe nette Mann aus dem Fenster, mit dem ich an meinem ersten Tag in Kiruna eine Kurzkonversation auf Schwedisch hatte. Langsam gehöre ich zur lokalen Mikro-Community.
Die Luft ist frisch und angenehm, die Sonne bricht immer wieder aus den Wolken hervor und scheint mir beim Laufen ins Gesicht. Die 45 Minuten Fußweg ins neue Stadtzentrum von Kiruna? Nicht der Rede wert.
Auf dem Weg sehe ich einen süßen Hasen unter einem der Autos des Skoda-Händlers sitzen. Er bewegt sich erst, als ich direkt auf ihn zulaufe und zerstreut meine Zweifel, ob er vielleicht angefahren wurde und verletzt ist.

Dankbarkeit
Der Tag Zwischenlandung in Kiruna gibt mir die Möglichkeit, die Erlebnisse auf dem Kungsleden zu verdauen. Vor allem ist mir durch dieses Abenteuer bewusst geworden, wofür ich nun sehr viel dankbarer bin als zuvor. Es sind Annehmlichkeiten unseres modernen Lebens, die wir so gerne als gegeben hinnehmen:
- Privatsphäre: Ein Zimmer, in dem ich alleine und ohne die Geräusche unbekannter Mitschläfer:innen ausruhen kann
- Ein weiches, frisch bezogenes Bett
- Steckdosen zum Laden meiner elektronischen Geräte und Licht
- Waschmaschine und Trockner statt Wäsche waschen im Fluss
- Duschen: Ein nicht endender Strom fließenden Wassers, den ich sogar temperieren kann – auch wenn die finnische Sauna-Kultur definitiv ihre Vorzüge hatte!
- Nicht mitten in der Nacht bei Kälte und Nässe nach draußen zu müssen, um die Toilette aufzusuchen
- Mobilempfang: Wege suchen, Informationen googeln, mit lieben Menschen in Kontakt bleiben.
- Statt dem riesigen Deuter nur noch einen kleinen, federleichten Tagesrucksack auf dem Rücken zu tragen
- Nahrhaftes Essen wie Quark, Joghurt, Käse, Eier und Fisch, frisches Brot, Obst und Gemüse. Und natürlich: eine knackige Gurke.
Unnötige Ängste
In der Rückschau muss ich feststellen: Es gab ein paar Ängste in meinem Kopf, mit denen ich mir das Leben vor Antritt meiner Reise unnötig schwer gemacht habe. Keine einzige davon hat sich bewahrheitet. Da ich andere Wandernde, vor allem alleinreisende Frauen, ermutigen möchte sich auf den Weg zu machen, teile ich diese ganz offen mit euch:
- Verloren gehen: Der nördliche Kungsleden ist sehr gut ausgeschildert und durchgehend markiert. Die einzige Ausnahme ist der Zubringerweg von Singi zur Kebnekaise Fjällstation – mehr dazu in diesem Artikel. Hier könnt ihr aber Vorkehrungen treffen, um euch abzusichern: GPS-Tracks oder Komoot-Offline-Karten vorher herunterladen oder eine gute alte gedruckte Karte mitnehmen.
- Wilde Tiere: Ich hatte tatsächlich Sorge vor Bären und Wölfen. Ich habe kein einziges dieser Tiere zu Gesicht bekommen und bin mir ziemlich sicher: Sie machen einen großen Bogen um Wandernde, genau wie die Rentiere. Denen begegnet man durchaus, aber es ist unmöglich, den scheuen Tieren wirklich nahe zu kommen. Das wahrscheinlichste, was euch passieren wird, ist dass ihr über ein gut getarntes Moorhuhn stolpert, das mitten in eurem Weg liegt.
- Bei einem Unfall nicht gefunden werden. In den frühen Morgenstunden bin ich meist allein gewesen. Dennoch finden sich in regelmäßigen Abständen Zeltende, auf die ich im Notfall hätte zugehen können. Schreitet der Tag fort, begegnen euch im Abstand von 1-2 Stunden regelmäßig andere Wandernde. Dennoch ist es nicht zu voll. Auch in der Hochsaison war keine der STF-Hütten bis aufs letzte Bett ausgebucht. An den Ein- und Austrittspunkten in Abisko und Kebnekaise ist der Ansturm größer, da viele Besucher:innen Tagestouren von dort aus unternehmen. Doch der eigentliche Kungsleden lag fest im Griff unserer kleinen, feinen Kerngruppe.
- Flüsse und Bäche überqueren. Im Wanderjargon auch Furten genannt. Klang im Heinemann-Wanderführer wesentlich dramatischer, als es am Ende war. Abgesehen von meinem Malheur auf dem vom Regen unterspülten Zubringerweg nach Kebnekaise bin ich über alle Wasserläufe, die meinen Weg kreuzten, trockenen Fußes hinweggekommen. Es erfordert minimales Geschick und Balance, aber wenn man es ein paar Mal gemacht hat, ist es eigentlich keine Herausforderung mehr. Über jeden größeren Fluss führen schwedisch-solide Hängebrücken, deren Überquerung mir immer großen Spaß gemacht hat – Schwindelfreiheit vorausgesetzt!
Kungsleden: Mein Fazit
Der nördliche Kungsleden war für mich vieles: Am Anfang habe ich in der Weitwanderung vor allem eine spannende körperliche Herausforderung gesehen. Diese Erwartung hat sich zwar erfüllt, aber ich kann guten Gewissens sagen: Mit ein wenig Grundfitness ist die Strecke absolut machbar.
Was mich viel tiefer bewegt hat, waren die unberührte Natur und die stille Weite Schwedisch-Lapplands, die auch in mir Raum und Ruhe haben entstehen lassen. Ein paar Tage ohne Handyempfang zu leben, war ein unerwartetes Geschenk. Es hat mir bewusst gemacht, wie wenig ich brauche, um glücklich und entspannt zu sein.
Auf dem Kungsleden hat es niemanden interessiert, was du beruflich machst, wo du wohnst und wie viel Geld du hast. Dadurch konnte ich mich ganz auf das Wesentliche konzentrieren: meine Schritte, die Menschen um mich herum und die Geschichten, die sie mir erzählten. Die Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft unserer kleinen Wandergruppe hat mein Urvertrauen in die Menschheit bestärkt– ein Gefühl, das ich mit zurück in meinen Alltag nehme.
Die Reise nach Schwedisch-Lappland hat mir gezeigt, welche Schönheit in der Einfachheit und einer nachhaltigen Lebensweise liegen. Ich bin mit der festen Entschlossenheit zurückgekommen, diese Werte in meinem Alltag zu verteidigen, auch wenn die Welt um mich herum, mich zum Gegenteil drängt.
Ich verspreche dir: Der Kungsleden wird auch dich verändern – auf die schönste Weise. Worauf wartest du also noch?
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