Auf sozialen Medien geistert ja seit Jahren Content von kuriosen train streets in Südostasien herum. Man kennt sie aus Thailand, die Videos von Märkten neben Bahngleisen, die in Windeseile verschwinden, sobald ein Zug heranrast – und mit schaurig geringem Abstand von den Häuserwänden durch die enge Passage zischt.
Ich hatte es eigentlich gar nicht auf dem Zettel, das Pendant einer solchen Straße in Hanoi zu besuchen. Ich landete durch Zufall nach einem aufregenden Morgenspaziergang dort.
Ich war vom eher touristischen Đồng-Xuân-Markt zum Long-Biên-Markt spaziert – letzterer ist wirklich sehr authentisch. Hier habe ich mich als Touristin wie ein intrusiver Fremdkörper und dadurch ein wenig unwohl gefühlt.
Für eine Pause nach all dem Trubel hatte ich mich ins Café Hoả Xa gerettet. Und dabei keine Ahnung gehabt, dass sich dieses am äußeren Ausläufer der berühmten train street befindet, wo die Häuser noch nicht so dicht um die Bahngleise herum stehen.
Nachdem ich einen imposanten einfahrenden Zug beobachtet hatte, regte sich meine Neugierde und ich wollte auch das Orginal aufsuchen.
Nach etwas Recherche auf Reise-Blogs habe ich per WhatsApp das Café Hanoi 1990s angeschrieben und eine Platzreservierung in Premium-Lage an den Gleisen vorgenommen. Das Personal hat mir sofort geantwortet, mir die aktuellen Uhrzeiten für die Züge durchgegeben und mir erklärt, wo sich der Eingang zur train street befindet.
Man muss durch einen Laden hindurch, um auf die andere Seite einer Häuserreihe zu gelangen, wo sich die Gleise befinden. Ein Mitarbeiter des Cafés hat bei meiner Ankunft dort bereits auf mich gewartet, damit ich mich nicht verirre, oder vom Personal anderer Cafés abgefangen werde. Eine entsprechende Warnung, dass dies eine gängige Masche sei, wurde mir vorher im Chat kommuniziert, was ich sehr sympathisch fand.
Vermutlich gibt es mehrere gute Cafés an der train street, aber ich war mit diesem sehr zufrieden. Da ich sehr viel früher als der angekündigte Zug vor Ort war, habe ich einen Mango-Smoothie geschlürft und fotografiert, was das Zeug hält. Das Personal unterstützt dabei nach Kräften. Sie wissen ganz genau, wo sie dich auf den Gleisen platzieren und aus welchem Winkel sie dich ablichten müssen, damit es besonders dramatisch aussieht. Dadurch habe ich wirklich tolle Bilder von mir.
Ich stehe auf solches Instagram-Posing eigentlich gar nicht und fühle mich dabei meistens ziemlich ungelenk. Auf das Angebot, einen Strohhut aufzusetzen und mir eine der berühmten vietnamesischen Tragestangen mit Körben über die Schultern zu schwingen, habe ich dann allerdings verzichtet.
Ich bin im Nachhinein sehr froh, die Zeit vorab genutzt zu haben, um das Gefühl dieser besonderen Location aufzusaugen. Denn kurz vor Ankunft des Zuges, wurde der Ort von Touristen regelrecht überströmt. Und wie es leider immer so ist: Die großen Gruppen haben sich aufgeführt, als würde ihnen alles gehören.
Der Übertourismus macht mich traurig. Ich sehe Menschen, die sich auf die Gleise setzen und von dort nicht wegbewegen, obwohl das verzweifelte Personal mehrfach darum bittet.
Ich habe gelesen, dass die Café-Besitzer zwar Profit mit den Gästen machen dürfen, aber dafür auch die Verantwortung für etwaige Unfälle tragen. Im Fall des Falles müssen sie mit drakonischen Strafen rechnen. Hier nicht zu kooperieren ist nichts anderes als dumm und rücksichtslos. Und das alles nur aus purem Egoismus und für das perfekte Selfie.
Als der Zug eintraf, hat es mir schlicht den Atem verschlagen und ich musste vor Adrenalin und Überforderung laut schreien.
Ich verstehe zu gut, was die Anziehungskraft der train street ausmacht. Es ist ein absolut verrücktes, aufregendes Erlebnis, das man wohl an nur wenigen Orten dieser Welt haben kann. Ganz sicher schon einmal nicht im durchregulierten Deutschland!
Am meisten hat mich überrascht, dass der Zug wesentlich schneller und größer ist, als ich es mir ausgemalt hatte. Man ist wirklich gut beraten, den Anweisungen des Café-Personals Folge zu leisten, denn die Mitarbeiter:innen wissen genau, wo es sicher ist, zu stehen.
Aus rein egoistischer Perspektive würde ich den Besuch der train street also auf jeden Fall empfehlen. Allerings gibt es auch ethische Überlegungen, die man anstellen sollte, bevor man den Instagram crowds hinterher pilgert. Hier empfehle ich euch eine ausführliche Online-Recherche – die bei mir wegen der Spontaneität meines Besuchs leider erst nachträglich stattgefunden hat.
Instagram hat die train street 2019 innerhalb kürzester Zeit zum Touri-Hotspot transformiert und das lokale Leben entlang der Straße damit quasi ausgelöscht. Eine frappierende Entwicklung von einem nicht besonders attraktiven Wohnort entlang einer lärmenden, gefährlichen Zugstrecke zum Magneten für Influencer:innen, Travel Blogger:innen und Journalist:innen.
Für die wenigen Locals, die dort bleiben konnten, sind die Cafés an der Zugstrecke natürlich eine Lizenz zum Geld drucken. Die Straße wurde allerdings wegen Überfüllung und tödlichen Zwischenfällen mit vor dem einfahrenden Zug posierenden Tourist:innen zeitweise von den Behörden geschlossen. Im Moment ist sie wieder frei zugänglich und mehr denn je zum Inbegriff des digital getriggerten Übertourismus mutiert.
Am Ende muss sich jede:r natürlich selbst ein Bild der Lage machen und eine Entscheidung treffen, die den eigenen Werten entspricht.
Wichtig ist mir an der Stelle die Botschaft: Informiert euch und macht euch der Umstände bewusst. Oder um die Benedict Cumberbatch Version von Sherlock Holmes aus der BBC-Serie zu zitieren: Do your research.
Schreibe den ersten Kommentar